Die Bundesbildungsministerin Karin Prien ruft Babyboomer dazu auf, sich als ehrenamtliche Mentoren in Schulen zu engagieren. Die Rechnung klingt verlockend: Auf jedes sechsjährige Kind kommen in Deutschland nahezu zwei 60-Jährige. Ein riesiges Potenzial an Zeit, Lebenserfahrung und Engagement, das dem überlasteten Bildungssystem helfen könnte. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich: Was im Grundsatz eine gute Idee ist, scheitert in der Praxis an einer viel zu komplizierten Umsetzung, meint unser Kommentator Christoph Sochart.
Das Problem liegt im Detail
Das Startchancen-Programm der Bundesregierung fordert explizit die Einbindung ehrenamtlicher Lernpartner. Schulen können Fördermittel für Freiwillige beantragen. Soweit die Theorie. In der Realität werden sie dann mit dieser Aufgabe weitgehend alleingelassen. Es fehlt an Richtlinien, an dauerhafter Unterstützung und vor allem an hauptamtlichen Fachkräften, die die Ehrenamtskoordination übernehmen könnten.
Die Konsequenz: Schulen, die ohnehin am Limit arbeiten, sollen nun auch noch Freiwilligenarbeit organisieren. Lehrkräfte, denen bereits jetzt die Zeit für ihre Kernaufgaben fehlt, sollen Ehrenamtliche auswählen, einarbeiten und begleiten. Das ist realitätsfern.
Die pädagogische Herausforderung
Ein weiteres grundlegendes Problem wird in der Diskussion häufig übersehen: Vielen engagierten Seniorinnen und Senioren fehlt schlichtweg die pädagogische Erfahrung. Der gute Wille allein reicht nicht aus, um Kindern mit Lernschwierigkeiten, aus bildungsfernen Haushalten oder mit Migrationshintergrund wirksam zu helfen.
Wer soll diese Menschen schulen? Wer überprüft ihre Eignung vor dem Einsatz? Und wer begleitet sie kontinuierlich, wenn Konflikte mit Lehrkräften oder Schülern entstehen? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Ein erweitertes Führungszeugnis allein macht noch keinen guten Mentor.
Die fachliche Vorbereitung ist komplex: Wie gehe ich mit Kindern unterschiedlicher Herkunft um? Wie kommuniziere ich mit Lehrkräften auf Augenhöhe? Wo bekomme ich Arbeitsmaterialien? Was tue ich in Konfliktsituationen? All das erfordert professionelle Schulung und kontinuierliche Begleitung.
Es gibt bessere Lösungen
Statt das Rad neu zu erfinden, sollte die Politik auf bestehende Strukturen setzen. In Deutschland gibt es bereits etablierte Vereine und Organisationen mit genau diesem Vereinsziel. Programme wie “Mentor – Die Leselernhelfer” oder “Zukunftspartner – Die Starthilfe für dich” in Düsseldorf zeigen, wie Mentoring funktionieren kann. Sie verfügen über:
– Erfahrung in der Auswahl geeigneter Ehrenamtlicher
– Bewährte Konzepte
– Strukturen zur kontinuierlichen Begleitung
– Methoden zur Qualitätssicherung
– Netzwerke und Know-how
Eine Studie des Institute of Labor Economics in Bonn belegt laut der Zeitung „Die Zeit“ die Wirksamkeit solcher strukturierten Programme: Nach einem Jahr wöchentlicher Begleitung durch einen ehrenamtlichen Mentor schrumpfte der Bildungsabstand zwischen Kindern aus Familien mit niedrigem sozioökonomischen Status und besser gestellten Familien um die Hälfte.
Der richtige Weg: Kooperation statt Alleingang
Statt Schulen mit einer weiteren Aufgabe zu überlasten, sollte die Bundesregierung:
+ Lokale Vereine und Organisationen aktiv einbinden
Diese verfügen bereits über die notwendige Infrastruktur, das pädagogische Know-how und die Erfahrung in der Freiwilligenkoordination.
Diese verfügen bereits über die notwendige Infrastruktur, das pädagogische Know-how und die Erfahrung in der Freiwilligenkoordination.
+ Bestehende Strukturen finanziell unterstützen
Vereine brauchen verlässliche Ressourcen für Schulungen, Administration und Koordination. Finanzielle Mittel sollten nicht primär an Schulen fließen, sondern an die Organisationen, die das Ehrenamt professionell begleiten können.
Vereine brauchen verlässliche Ressourcen für Schulungen, Administration und Koordination. Finanzielle Mittel sollten nicht primär an Schulen fließen, sondern an die Organisationen, die das Ehrenamt professionell begleiten können.
+ Standardisierte Prozesse schaffen
Klare Zuständigkeiten in Schulämtern, vereinfachte Antragsverfahren und digitale Koordinationsplattformen würden die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Organisationen erheblich erleichtern.
Klare Zuständigkeiten in Schulämtern, vereinfachte Antragsverfahren und digitale Koordinationsplattformen würden die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Organisationen erheblich erleichtern.
+ Auf Dialog setzen
Die Einbindung von Ehrenamtlichen muss in enger Abstimmung mit Schulen, Lehrkräften und erfahrenen Organisationen erfolgen. Nur so lässt sich klären, wo tatsächlich Bedarf besteht und wie dieser sinnvoll gedeckt werden kann.
Die Einbindung von Ehrenamtlichen muss in enger Abstimmung mit Schulen, Lehrkräften und erfahrenen Organisationen erfolgen. Nur so lässt sich klären, wo tatsächlich Bedarf besteht und wie dieser sinnvoll gedeckt werden kann.
Zusammengefasst bedeutet das: Potenzial nutzen, aber richtig
Das Potenzial der Babyboomer-Generation für die Bildung der Jüngeren ist real und wertvoll. Doch der aktuelle Ansatz der Bundesregierung droht dieses Potenzial zu verspielen. Wer Ehrenamt im Bildungssystem verankern will, darf nicht einfach nur dazu aufrufen und Fördertöpfe bereitstellen. Es braucht professionelle Strukturen, qualifizierte Begleitung und die kluge Nutzung bereits vorhandener Expertise. Die Lösung liegt nicht in einer weiteren Belastung der Schulen, sondern in der Stärkung erfahrener Organisationen und der Förderung lokaler Kooperationen. Nur so wird aus einer gut gemeinten Idee auch eine wirksame Maßnahme für mehr Bildungsgerechtigkeit.
