Eine Schule für alles – oder eine Schule für niemanden?
Ich gebe es zu: Ich bin ein erklärter Fan des viergliedrigen Schulsystems – Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Förderschule. Und das sage ich nicht aus Ideologie, sondern aus Erfahrung. Als langjähriger Elternsprecher einer Gesamtschule habe ich die Herausforderungen des schulischen Alltags hautnah erlebt. Ich weiß um das Engagement vieler Lehrkräfte, ich kenne wunderbare Gesamtschulen, in denen Vielfalt wirklich gelebt wird. Und doch: Die Realität sieht oft anders aus.
Mein heutiger Beitrag richtet sich auf ein Thema, das aktuell viele Gemüter bewegt – und es sollte auch so sein. Die NRW-Landesregierung plant eine Änderung des Schulgesetzes, mit der eine bislang als Übergangsregel gedachte Ausnahme dauerhaft festgeschrieben werden soll: Realschulen dürfen künftig einen Hauptschulbildungsgang einrichten – nicht nur ab Klasse 7, sondern neu auch schon ab Klasse 5. Voraussetzung ist, dass es im Umfeld keine Haupt- oder Gesamtschule mehr gibt.
Was auf den ersten Blick nach Flexibilität und Pragmatismus klingt, ist bei genauerem Hinsehen ein weiteres Kapitel in der schleichenden Erosion unseres differenzierten Schulsystems.
Denn: Wer einmal zulässt, dass Realschulen „bei Bedarf“ zur Kombischule werden, wird bald feststellen, dass dieser Bedarf überall gesehen wird. Und zwar nicht, weil es pädagogisch sinnvoll wäre – sondern weil viele Hauptschulen durch rückläufige Anmeldezahlen in ihrer Existenz gefährdet sind. Städte und Gemeinden stehen unter Druck, Schulstandorte wirtschaftlich zu organisieren. Eine Schule für alles klingt da zunächst verlockend. Aber: Funktioniert das auch?
Ich meine: nein. Ich habe es selbst erlebt, mit meinem eigenen Kind. Die Idee: Eine Klasse, in der starke und schwächere Kinder voneinander lernen. Gelebte Inklusion. Das Ergebnis: Die Schwachen wurden schwächer, weil ihnen die gezielte Förderung fehlte. Die Starken wurden ebenfalls schwächer, weil sie unterfordert blieben. Am Ende wurde niemand mehr richtig gefordert oder gefördert. Die Klasse funktionierte nicht – trotz aller Bemühungen.
Und genau das droht jetzt auch bei der geplanten Öffnung der Realschulen. Denn was bedeutet „binnendifferenzierter Unterricht“ in der Praxis? Er bedeutet: ein und dieselbe Klasse, aber mehrere Bildungsgänge. Alle sitzen zusammen im Raum, arbeiten jedoch nach unterschiedlichen Lehrplänen und mit verschiedenen Lernzielen. Was sich nach Vielfalt anhört, bedeutet in der Realität vor allem: eine enorme Belastung für Lehrkräfte – und eine Überforderung für viele Schülerinnen und Schüler.
Was hier entsteht, ist de facto eine integrierte Schulform durch die Hintertür – ohne die entsprechende personelle und konzeptionelle Ausstattung. Ohne Reform, aber mit Reformfolgen.
Das Bildungsministerium wehrt ab. Man wolle nicht die Hauptschulen abschaffen, heißt es. Kommunen seien verpflichtet, diese weiterzuführen – solange ein „Bedarf“ bestehe. Aber wer definiert diesen Bedarf? Wenn Anmeldezahlen sinken, wenn Eltern auf andere Schulformen ausweichen, wenn Standorte auslaufen, dann verschwindet dieser Bedarf schneller, als man „Bildungsgerechtigkeit“ sagen kann.
Was wir brauchen, ist nicht das Aufweichen von Schulformen, sondern ihre Stärkung. Wir brauchen eine klare und ehrliche Diskussion darüber, wie wir jedem Kind den bestmöglichen Bildungsweg eröffnen – ohne es in ein System zu zwingen, das pädagogisch überfordert ist. Eine gute Hauptschule ist keine Schule zweiter Klasse. Eine starke Realschule ist kein Ort für Kompromisse. Und eine funktionierende Gesamtschule braucht mehr als schöne Konzepte – sie braucht Ressourcen, Mut zur Differenzierung und vor allem: Zeit für die Kinder.
Wir sollten aufhören, Bildungspolitik mit dem Rotstift zu machen. Sonst haben wir bald nur noch Schulformen auf dem Papier – und Bildungsrealität, die niemandem mehr gerecht wird.